Leseprobe aus "Weniger"

Foto © Antje Döhring
Foto © Antje Döhring

LESEPROBE "ABENDBLAU"

 

MARGIT


Margit schwebt. Margit möchte laut singen. Margit vibriert voller Energie, die scheinbar unerkannt
in ihr schlummerte und nun unbedingt heraus will. Sie muss den Impuls unterdrücken, wie ein Kind
von Steinfliese zu Steinfliese auf dem Gehweg zu hüpfen, ohne die Fugen zu berühren. Margits
Magen verkrampft manchmal ohne Vorwarnung vor Schreck, was sie da angefangen hat. Doch
dann tiriliert es wieder unhörbar in ihr; nur ihre Nervenfasern beben unter diesem lautlosen
Gesang.
Gleichzeitig legt sie daheim die Wäsche, wischt den Küchenfußboden, sortiert auf Arbeit Bücher
aus Regal G aus, die nach Regal K gehören. Verlängert mit sanfter Mahnung momentan nicht
daheim auffindbare Kinderbücher im „Lesezimmer“ der Bernheimer Grundschule, spricht mit
Gregor über den nächsten Kinobesuch, stopft Martins verschwitzte Sporthemden in die
Waschmaschine, gießt Topfpflanzen. Ein eigenartiger Zustand, unwirklich komplex.
Dauernd zerbricht sie sich den Kopf darüber, ob sie die Handynummer anwählen soll, die auf dem
schon recht lädiert wirkenden Zettelchen steht, das Nikola ihr in die Hand gedrückt hat. Geht das –
so ganz unverfänglich? Was wird er denken? Gut – er hat ihr selbst diese Nummer gegeben. Aber
hat Oma nicht stets ermahnt: „Wer da will was gelten, mache sich selten!“? Und was genau ist
unverfänglich?
Margit muss sich eingestehen, dass ihre Gedanken alles andere sind als das. Immerfort tauchen
vor ihr Bilder auf: Nikolas Hände mit der Narbe am Daumen. Man könnte die eigenen Finger mit
seinen verschränken. Die paar Brusthaare, die aus dem V-Ausschnitt seines Shirts lugen. Ob sie
an der Wange kratzen? Massive Schultern, von denen die Jacke schnurgerade herabhängt. Man
könnte sich unter sie schieben, um den Schultern näherkommen als die Lederjacke. Und immer
wieder Momentaufnahmen seines Gesichts: Der gerade Haaransatz, die Bartschatten, die
aufgebogenen Wimpern. Nie schafft sie es, sich sein Gesicht im Ganzen vorzustellen.
Nicht zum ersten Mal ertappt sie sich dabei, diesen Mann dem Hier und Jetzt zu entziehen, in
andere Zusammenhänge, andere Zeiten und Umstände zu bringen. Sie hat versucht, ihn sich als
aromunischen Händler von vor hundertfünfzig Jahren vorzustellen – ein weitgereister Mann, der
edle Tuche in den Städten rings ums Mittelmeer verkauft. Irgendwie ist es ihr nicht gut gelungen,
vielleicht fehlt ihr einfach zu viel konkretes Wissen über das Leben jenes Volkes?
Statt dessen, findet sie, würde Nikola sich gut als Besetzung machen in einem Roman über einen
römischen Senator. Einen edlen Kreuzritter, der im 12. Jahrhundert ins Gelobte Land aufbricht,
viele Abenteuer besteht, Anschlägen entgeht, aber niemals jemanden umbringt. Oder wenn, dann
nur in Notwehr.
Oder, wie wäre es mit einem irgendwie-südlichen Volkshelden? So einem, der Frauen und Kinder
aus Feuersbrünsten, Kugelhagel oder hereinbrechenden Wasserfluten rettet, ohne auf sich zu
achten oder gar Dank zu erwarten. Ein Typ, der Dinge tut, weil sie getan werden müssen. Und
keiner außer ihm da oder in der Lage dazu.
Selbst dann, wenn Margit an ihn im Heute denkt - als der Metzger und Fußballjuniorentrainer, der
er ist – erlebt sie, wie er ihre ohnehin selten müßige Phantasie permanent auf Touren hält. Und
nicht nur die Phantasie, auch ihr Denken nimmt neue Wendungen. Immer wieder erlebt Margit
neuerdings, wie sie auf einmal die Dinge um sich herum anders betrachtet. Ganz so, als nähme
sie seinen, Nikolas Blickwinkel ein.
Was würde er zu den Bücherwänden aus deutschen Buchstaben in der Bibliothek und in ihrem
Wohnzimmer sagen – der Mann, der zwar Deutscher ist, aber die Sprache doch nicht völlig
akzentfrei spricht? Wie würde er über ihren Abendbrot-Tisch urteilen, auf dem sich inzwischen nur
noch ein Tellerchen Kochschinken allein für Margit fast schamhaft zwischen all den
Gemüseplatten, Tofuschnitten und Käseecken verbirgt – er, der tagtäglich mit frischem Fleisch
hantiert und Wurst macht, die dezent nach Blut und kräftig nach Pfeffer und Majoran duftet? Was
hielte er vom alltäglichen Chaos, das eine Familie nun mal verbreitet – er, ein Mann, der allein
lebt? Fände er es belebend oder eher nervig?
Die Welt wirkt auf einmal bedeutungsvoller. Hinter der sichtbaren Oberfläche der Dinge verbirgt
sich eine weitere, denn Margit sieht auf einmal wie durch seine Augen. Da sie jedoch Nikolas
Denkweise gar nicht wirklich kennt, werden es immer mehr, neue mögliche Oberflächen, durch die
sie schließlich wie durch Buchseiten blättern kann. Ihre Welt ist mehrdimensional geworden.

© Antje Döhring

 

LESEPROBE "Weniger"

 

Sie fühlt sich entsetzlich heute Abend. Am Morgen konnte Jasmin es geschickt so hinbiegen, als äße
sie zum Frühstück ein paar Happen (wieder einmal gekonnt entsorgt, als niemand hinsah) und
nähme ein ordentliches Pausenbrot mit in die Schule. Von wegen. Jasmin hatte sich geschworen, die
Menge des Abendessens mit Fasten morgen auszugleichen. Davon wird sie schon nicht gleich
wieder in Ohnmacht fallen.
Mama hatte mit derart stolz geschwellter Brust und so strahlenden Augen ihre Spezialrouladen mit
Rotkraut und Klößen serviert und dabei einen so hoffnungsvollen Blick auf ihr ruhen lassen, dass
Jasmin sich nicht mit fast nichts auf dem Teller bescheiden konnte. Also hatte sie brav von allem
etwas gegessen und bei jedem Bissen die in sie eingefüllten Kalorien berechnet und geradezu auf
ihre Hüften kriechen sehen. Sie will Mama einen Gefallen tun. Die hat sich so viele Sorgen
ihretwegen gemacht in letzter Zeit. Das weiß sie, auch wenn Mama das natürlich nicht sagt. Nur oft
seufzt.


Ein bisschen muss sie außerdem wirklich zunehmen, wegen der Frankreichreise. Aber wirklich
kein Gramm mehr als gefordert, bitte. Schlimm, dass sie von so einer normalen
Erwachsenenportion, die sie gerade verdrückt hat, ganz bestimmt mächtig zunehmen wird. Genau
das, was die Ärzte von ihr sehen wollen. Genau das, was ihre Familie von ihr erwartet. Und Dr.
Neubert, Therapeutin Mareike, ihre Schulfreundinnen, selbst Trixi, einfach alle. Sogar Patrick und
Jenny beäugen ihr Essverhalten, ihren Körper unter den kaschierend weiten Kleidern. Wie nervig
das ist.
Wie rührend das ist … Alle sind sie so besorgt, dass es Jasmin manchmal richtig schwerfällt,
doch ihr Essen wieder heimlich wegzukippen oder so zu tun, als käme all das verdreckte Geschirr in
der Küche von einer Jasmin-Koch-und Schlemmerorgie. Dabei kocht sie oft nur, wenn jemand in
der Nähe ist, damit es lecker aussieht und gut riecht in der Küche. So, als esse sie viel und gern …
Die entspannten Gesichter der Familie an solchen Tagen!
Mamas Mühe mit den Rouladen. Hach, zugegeben, geschmeckt hat es super. Anfangs. Doch ihr
Magen schmerzte schon nach wenigen Bissen. Der ist solche Mengen einfach nicht mehr gewöhnt
und das Gefühl des Überfressenseins danach bescherte ihr Übelkeit. Nein, in die Bulimie will sie
nicht auch noch abrutschen, das findet Jasmin würdelos.


Aber ach … Jasmin wagt von ihrem Bett aus, auf welches sie sich rücklings geworfen hat, um
den Magen zu entlasten, einen Blick schräg gegenüber in den Spiegel am Kleiderschrank. Sie hebt
das Sweatshirt und das Unterhemd etwas hoch. Den Hosenbund der Jogginghose hat sie wegen des
Magendrucks schon runtergeschoben. Und? Eben: Ihr Bauch wölbt sich eklig auf. Jasmin kann gar
nicht hinsehen, mit Tränen in den Augen und einem Kloß im Hals wirft sie sich auf die Seite und
starrt die Wand hinter ihrem Bett an. Das Poster von Robert Pattinson in der Rolle von Edward
Cullen aus der Twilight-Serie wellt sich am unteren Rand, die Farben sind mittlerweile etwas
verblichen.
»Ich halte das nicht aus, ich kann es nicht ertragen, wieder zuzunehmen«, murmelt Jasmin
verzweifelt vor sich hin. Sie will zwar alle diejenigen nicht enttäuschen, welche hoffen und bangen,
dass Jasmin wieder isst und gesund wird. Doch Über-Ana ist oft stärker als sie; schon beim bloßen
Gedanken an Nahrungsmittel brüllt sie ihr ihre Regeln ins Ohr, beschimpft sie als schwach und fett,
macht sie fertig.


Längst geht es Jasmin nicht mehr um Beyoncé-gleiche Kurven, um Sexiness und gutes
Aussehen. Das Hungern hat sich davon losgelöst. Ist ein Symbol ihrer Macht geworden. Der
leichtere Körper – ein Triumph über sich selbst, aber auch über alle, welche sie in ihr Schema zu
pressen versuchen: Jasmin, sei fleißig; Jasmin, benimm dich anständig; Jasmin, mach etwas aus
deinem Leben; Jasmin, wir wissen, was gut für dich ist; Jasmin, mit dieser Einstellung wirst du
bestimmt keinen Erfolg im Leben haben …
Sie hat längst nicht mehr das Gefühl, auf einer Schulter hocke das Engelchen und auf der
anderen das Teufelchen, und beide quasselten mit ihren Meinungen auf sie ein. Nein, immer
häufiger kommt es ihr so vor, als sei sie selbst zwei Personen gleichzeitig: die eine Jasmin, die zur
Hoffnung Anlass Gebende, die Zukunftsberechtigte, die Vernünftige. Die, welche zunehmen will,
weil sie weiß, dass alles andere krank ist, sie am Ende dauerhaft zerstören könnte.
Und die andere. Die Jasmin, welche stundenlang düster die Wand anstarren kann, weil sie das
leere Loch in sich hasst, das ihr Zentrum geworden ist: der leere Magen als Ausdruck einer
hoffnungslosen, endlos öden Landschaft, als die sich manchmal ihr Leben jetzt und später vor ihr zu
erstrecken scheint. Sie selbst: Fett, hässlich, nutzlos. Weniger-ist-mehr. Die beiden Jasmins
begegnen sich dennoch nie. Mal ist die eine da, dann wieder die andere. Doch jede zieht sie in ihre
Richtung, zerrt an ihr, stellt ihr Gründe und Beweise vor und dass dieser Standpunkt der einzig
richtige sei …


Mit leerem Blick schaut Jasmin in Theklas Terrarium. Sie hat Patrick erlaubt, dass er sie bei ihr
zwei Wochen einquartiert, damit Thekla nicht so allein ist, bis er aus Potsdam zurückkommt. Als
Gegenleistung dafür, dass er sie nicht bei den Eltern verpetzte, als er sie voriges Wochenende dabei
ertappte, wie sie einen ganz frischen Käsetoast im Mülleimer unter Kartoffelschalen versteckt hatte.
Die Vogelspinne hockt in der vorderen linken Ecke an einer Baumwurzel, welche Patrick dort
vor einiger Zeit hingelegt hat. Ob sie wach ist oder schläft? Spinnen haben viele Augen – und
trotzdem kann man nicht sehen, ob sie pennen oder einen beobachten. Thekla hat sich gut unter
einem wie Schimmel aussehenden, dicken Netz zur Hälfte verborgen, man muss sich etwas
vorbeugen, um sie in ihrer Kokonhöhle erkennen zu können. Jasmin wünscht sich auch solch einen
Kokon.

© Antje Döhring